Schweren Schrittes ging er die Straße entlang, seine Füße schmerzten und kochten in seinen Schuhen. Am liebsten würde er sie ausziehen. Wenn er denn könnte. Doch das ging nicht! Er arbeitete schließlich! Vor ihm quietschte der alte Postkarren immer lauter werdend. Er stöhnte auf, dieser Karren musste endlich mal von den Handwerkern in der Leitstelle in Ordnung gebracht werden.
»Der letzte Brief, nur noch dieser eine«, dachte er. Dann ist Schluss für heute und er konnte sich dann hoffentlich den Rest des Tages entspannen. Doch jetzt musste er erst mal die letzten Meter bis zu dem Haus hoch stapfen, um den letzten Brief abzugeben. »Warum musste es unbedingt ganz oben auf dem blöden Hügel stehen!«, meckerte er in Gedanken vor sich her.
Endlich stand er vor dem Eingang und betrachtete ihn. Heute hatte er so viele Türen gesehen, geöffnet und wieder geschlossen. Aber diese hier, diese war wie aus einem Märchen entsprungen fand er und er betrachtete jedes noch so kleine Detail. Der Vorgarten war mit einem süßem kleinen weißen Zaun umgeben, der Weg zur Tür in einem Mosaik aus schwarzen und weißen Fliesen gefliest, umschlossen von grünen prächtigen Pflanzen. Am Haus wuchs ein Wisteria Baum, der seine lila Blüten wie einen Vorhang über der Tür zu einer anderen Welt herunterhängen ließ.
Ihm war der Atem gestockt, dann besann er sich und klopfte an der Tür, einmal, zweimal. Als er zum dritten Mal mit seiner Hand ausholte, hörte er leises tapsen hinter der Tür, welches immer lauter wurde. Plötzlich wurde sie aufgerissen und dann sah er sie. Mit einem wunderschönen Lächeln stand sie da und sah ihn an. Ein Kribbeln im Bauch, sein Herz eine Explosion.
»Lass los! Das ist meine!«, kreischte sie.
»Wo von träumst du Nachts?«, schrie er zurück und zog an dem einen Ende, welches seine Hand fest umschlungen hielt, zu sich.
»Nein!« Ihre Stimme kam grollend aus ihrem Halse, was ihn für eine Sekunde zurückschrecken ließ. Sie dafür nutzte den Augenblick und zog das ihre Ende so heftig zu sich, dass er ins Taumeln geriet und hilfesuchend nach einer der Rüstungen griff, die überall zur Deko herum standen. Diese kam für einen Moment ins Wanken, so dass er den Atem festhielt und die Krone kurz vergaß.
»Ha! Jetzt ist es meine.« Ein süffisantes Grinsen huschte ihr über die Lippen und ein abartiger Glanz lag in ihren Augen, den er noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte.
»Das weiß ich aber zu verhindern.« Er nahm Anlauf und schlug ihr das Stück Metall so heftig aus der Hand, als sie dabei war, sie sich aufzusetzen. Sie folgten mit ihrem Blick dem durch die Luft fliegenden runden Gegenstand. Wie er in der Sonne glitzerte und funkelte. Für einen Moment erschien es den beiden so, als wäre die Zeit stehen geblieben. Doch dann prallte sie mit voller Wucht gegen die Wand und landete wackelig auf der Fensterbank.
»Puh, nochmal Glück gehabt.«, stöhnte er erleichtert auf.
»Stimmt, was wäre wohl gewesen, wenn sie durch das offene Fenster nach draußen geflogen wäre.«
»Oha, die Hölle wäre hier los.« Beide mussten kichern und ihnen viel ein Stein vom Herzen.
Mit voller Wucht schwang aus heiterem Himmel krachend einer der großen Türen auf. «Was macht ihr hier!«
Erschreckt sahen sie mit weit aufgerissenen Augen zu ihm auf und fühlten den frischen Windhauch, den er mitbrachte. Ihre Köpfe schnellten zum Fenstersims hinüber. Die beiden sprinteten los, doch sie waren einfach nicht schnell genug. Die Krone wackelte immer heftiger auf der Kante und rutschte ohne Vorwarnung einfach herunter. Dicht nebeneinander kamen sie am Fenster zum Stehen, gruben ihre Hände in die Fensterbank, so dass ihre Knöchel hervortraten. Mit einem erstickten Laut starrten sie dem Stück Metall nach, welches scheppernd die Dachziegel hinunter preschte und dabei immer mehr fahrt aufnahm.
»Sagt mir jetzt nicht, dass das die Krone war!« Seine Stimme war nur noch ein tiefes Brummen, was den beiden einen fürchterlichen Schauer über den Rücken laufen ließ. Wie angestarrt blieben sie stehen und sahen weiter aus dem Fenster. Ein dumpfes metallisches Geräusch ertönte, als sie in der Dachrinne zum Halten kam. »Oh mein Gott, ihr habt sie nicht wirklich aus dem Fenster geworfen.«
Die Geschwister drehten sich um und prallten fast gegen die Brust ihres größeren Bruders, der so dicht vor ihnen stand, dass nur noch ein Blatt Papier platz zwischen ihnen hätte.
Fanfaren ertönten, was alle drei angespannt aufhorchen ließ. Schneller als sie handeln konnten, wurden die Türen aufgestoßen.
»Loß! Schleicht euch raus und holt sie, während ich hier die Stellung halte.«, zischte er seinen jüngeren Geschwistern zu, die sofort los eilten.
»Ah da ist er ja!«
»Vater.«, begrüßte er ihn mit einem tiefen Knicks, so dass er fast mit seiner Nase sein Knie berührte. »Habt ihr mich gesucht?«
»In der Tat.«
»Was kann ich für euch tun?«
»Wie ihr wisst, richtet eure Mutter einen Ball aus.«
»Ja?«
»Dieser ist für euch.«
»Für mich! Warum für mich?«
»Das fragt ihr nicht wirklich.« Er lachte hohl auf und hielt sich mit einer Hand seinen Bauch fest, der an Wackelpudding erinnerte. »Dort werdet ihr eine Frau finden, damit ihr die Krone übernehmen könnt.«
Bei dem Stichwort schielte er über seine Schulter und beobachte seine Schwester, die auf das Dach geklettert war und mit einer Hand nach etwas Funkelnden angelte.
»Meint ihr, dass eine der Töchter der Adelsherren dabei ist, die zu mir passt?« Er musste das Gespräch weiter hinauszögern, bis seine Geschwister erfolgreich zu ihm zurückkehrten.
»Ich nehme an. Aber selbst wenn nicht, wird sich sicher irgendwo eine finden lassen.« Ein plötzlicher Schrei, der ihm durch Mark und Bein ging ertönte hinter ihm. Abrupt drehte er sich herum und starrte fassungslos aus dem Fenster in die Tiefe.
»Wow! Wie das alles funkelt.« Lucinda dreht sich vor Freude in der Luft einmal um ihre eigene Achse. »Hui.«, ruft sie beflügelt dabei aus. Sie fühlt sich wie eine Ballerina. Die hat sie schon so oft im Fernsehen gesehen.
»Komm da weg!« Abrupt stoppt Lucinda mitten in ihrer Drehung und sieht nach oben zu ihrem Vater.
Warum sollte sie das tun? »Nein.«, ruft sie trotzig zurück. In der großen roten Kugel vor ihr kann sie ihr Spiegelbild so ausgezeichnet betrachten. Zum aller ersten Mal in ihrem Leben, sieht sie sich selbst.
»Lucinda!« Der Tonfall ihres Vaters wird um einiges schärfer. Jetzt ist der Trotz in ihr nun richtig geweckt und sie ignoriert ihn erst recht, der sich über ihr aufbrausend aufplustert. Sie sieht nur sich und die faszinierende rote Weihnachtsbaumkugel, die von den Lichtern die rundherum in der dichten Tanne befestigt sind, so herrlich beleuchtet wird. Lucinda schwingt näher an die Kugel heran und bewundert ihr Spiegelbild noch ausgiebiger. Völlig verzaubert streckt sie ihre schlanken herausragenden Beine in die Luft, die ihr bisher immer so viel Kraft gegeben haben und rekelt sie. Ihre Augen, die von einem beachtlichen Wimpernkranz umgeben sind und erst ihre Haarpracht, die in einem Zopf zusammen gebunden ist, welcher bei ihrer Bewegung ein wenig auf und ab wippt.
»Verdammt noch mal, jetzt verschwinde da Lucinda.« Ihr Vater kommt näher an sie heran, bleibt aber gerade so im dichten Grün der Tanne, dass sie ihm Schutz gibt.
»Hör auf deinen Vater.«, zischt ihre Mutter mahnend aus einer hinteren Ecke, die im Dunkeln liegt.
»Ihr seid ja solche Langweiler und Spießer.« Lucinda verdreht genervt die Augen. Ihr fällt auf, dass ihr Zopf etwas zu schief sitzt. Geschickt löst sie das Schleifenband, das ihre Haare fest zusammenhält, bis sie daran zieht. Wellend fallen sie über ihre Schultern. Wie anders sie jetzt aussieht. Warum war sie bisher nicht auf die Idee gekommen es öfter offen zu tragen.
»Könntest du dich bitte ein wenig beeilen!« Ihre Mutter hat sich minimal aus der Dunkelheit hinaus getraut und beobachtet sie mit Argusaugen.
»Jaha.«, antwortet sie genervt und fasst ihre Haare wieder flink zu einem Zopf zusammen. Verdammt, dass Schleifenband will einfach nicht halten. Sonst bekommt sie es doch auch immer sofort hin, doch jetzt hier, vor dem Spiegel, gelingt es ihr einfach nicht.
»Verschwinde da! Sofort!« Lucindas Mutter fängt aus heiterem Himmel panisch an zu schreien, sodass sie sich dadurch so sehr erschreckt, dass ihr das Schleifenband aus der Hand rutscht. Puh, gerade noch so hat sie es auffangen können, bevor es in die Tiefe gefallen wäre.
»Komm sofort hoch!« Auch ihr Vater gerät jetzt deutlich in Panik.
»Beruhigt euch doch mal. Ihr seit solche Spielverderber.« Lucinda konzentriert sich so sehr darauf, ihre Haare in einem Zopf zusammen zuhalten und das Schleifenband ordentlich zu fassen zu bekommen, dass es ihr nun eigentlich gelingen sollte, es wieder zusammen zu binden. Als sie erneut aufsieht, um ihr Spiegelbild zu betrachten, erschreckt sie dermaßen, dass sie fast ihren Halt verloren hätte. Im gleichen Augenblick gibt sie einen so lauten Schrei von sich, der jedem durch Mark und Bein gehen müsste, wenn er ihn hören würde. Doch sie ist sich nicht sicher, ob es das Großauge hinter ihr war oder sie selbst, die fürchterlich geschrien hat. Wie erstarrt schwebt sie in der Luft und sieht mit großen Augen in das des Großauge, das sich jetzt ganz langsam wieder von ihr entfernt. Vielleicht hatte es sie ja gar nicht gesehen.
»Oh Gott, ich dachte sie hätte dich entdeckt.«, flüstert ihre Mutter ihr so leise zu, dass sie sie kaum versteht. Als ob sie das Großauge verstände. Doch dann hören sie es sprechen.
»Liebling, hol sofort den Staubsauger. Da ist so etwas ekliges im Baum.«, kreischt es in einer abscheulichen Tonart.
»Ach du meine Güte!«, ruft ihr Vater aus und beginnt hektisch hin und her zu laufen. »Es kommuniziert mit einem anderen Großauge.«
»Hat es gerade Staubsauger gesagt?« Lucindas Mutter sieht beide vor Schreck mit weit aufgerissenen Augen an. Dann ruht ihr Blick auf ihrer Tochter.
»Wo ist es Liebling? Ich habe den Staubsauger.«
»Verschwinde!« Die Stimme ihrer Mutter hört sich wie ein warnendes züngelndes Zischen an.
»Gib her. Ich mache das selbst.«, sagt das Großauge und lässt das Ungetüm in ihrer Hand aufheulen.